Michael Haugeneder, ATP sustain Wien, im Interview : „Material ist ein Allgemeingut und jeder bezahlt nur die Miete auf Zeit zur Nutzung"

Michael Haugeneder
© ATP/Florian Schaller

TGA: 40 bis 50 Prozent der weltweiten Rohstoffe werden im Bausektor eingesetzt, der für 60 Prozent der Abfälle verantwortlich ist. Die Immobilien- und Baubranche kommt aus ökologischer wie auch ökonomischer Sicht um einen Strukturwandel nicht herum, oder?
Michael Haugeneder:
In den angeführten Kennzahlen finden sich zwei wesentliche Treiber – einerseits der Ressourcenverbrauch an Grund und Boden und andererseits der Ressourcenverbrauch an Primärmaterialien, der damit auch einen Treiber für Abfälle darstellt. Wir befinden uns derzeit in einem linearen Wirtschaftssystem, das noch dazu eine Teilung der Verantwortung für die Lebenszyklusphasen vorsieht. Das System der Beweislastumkehr an den Schnittstellen führt zu einem nicht umbaubaren System. Es braucht eine andere Definition von Verantwortung und Haftung (siehe Kühlschrankverordnung) und es braucht eine holistische Betrachtung im Genehmigungsverfahren, um hier Zielvereinbarungen verbindlich im Interesse der Bürger*innen durchzusetzen (CO2-Ausweis statt Energieausweis).

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Kreislaufwirtschaft adressiert drei Themen – Reduktion der masseintensiven Lieferkettenabhängigkeit, Reduktion der Entsorgungskosten und Klimaschutz.

Inwieweit sind Aspekte der Kreislaufwirtschaft und das „Cradle to Cradle“-Prinzip in Ihrer Planungstätigkeit von Relevanz? Werden Sie von Auftraggeber*innen in Ausschreibungen konkret auf diese Aspekte angesprochen?
Haugeneder:
Bei fast allen Projekten spielt in frühen Phasen vor allem beim Innenausbau C2C oder Reuse / Recycling eine wichtige Rolle. Teilweise erstreckt sich dies bei Bestandsbauten, die einem Neubau weichen sollen, auch auf die anderen masseintensiven Bauteile und wir werden zu Sanierung und selektivem Rückbau immer häufiger angefragt. Kreislaufwirtschaft adressiert drei Themen – Reduktion der masseintensiven Lieferkettenabhängigkeit, Reduktion der Entsorgungskosten und Klimaschutz. Dies geht einher mit einer Planungsverlängerung und teilweisen Bauzeitverkürzung – was für die Kund*innen kaum ein Problem darstellt.

Über Geschäftsmodelle wie Rücknahmesysteme oder das Leasing von Baumaterial wird laut nachgedacht – wie realistisch sehen Sie diese Ansätze? Was braucht es, um sie umzusetzen?

Haugeneder:
Ich sehe das als einzige Chance, in Europa die Klimaschutzziele einzuhalten und einen bewohnbaren Planeten zu erhalten. Dazu braucht es mehrere Dinge. Materialien müssen gesichert in Datenbanken wie Madaster mit geografischen Daten abgespeichert sein und Produzenten, Bauherren, Planer*innen und Ausführenden zur Verfügung stehen. Material ist ein Allgemeingut und jede*r Beteiligte bezahlt nur die MIETE auf Zeit zur Nutzung. Neben diesem Materialpass braucht es die haptische direkte Zuordnung zwischen Material und Datenbank – also gechippte Baumaterialien.

Können Sie das Konzept von gechippten Baaumaterialien noch näher ausführen?
Haugeneder: Das bedeutet, dass die Materialien vor Ort nicht mehr bearbeitet werden dürfen – Stichwort modulares Bauen. Der Chip ist das sogenannte Logbuch des Materials: Er beinhaltet alle Daten ab dem Zeitpunkt der Produktion und zeichnet auf, was mit dem Material passiert ist. Damit ist wie beim Gebrauchtwagen sichergestellt, wie der Zustand aussieht. Wenn der Chip weg ist, verliert das Material seinen Wert und dient als Rohstoff für ein neues Material. Die wichtigste Maßnahme dabei ist die Abschaffung der Beweislastumkehr im Rechtssystem, weil damit die Haftung beim Ersten bleibt und alle anderen jeweils mithaften für die Anwendung. Damit ist der Chip Pflicht oder das Risiko extrem hoch.

Material ist ein Allgemeingut und jede*r Beteiligte bezahlt nur die MIETE auf Zeit zur Nutzung.