Automatisiertes Planen : Paradigmenwechsel in der Energieplanung?
Zahlreiche Länder rund um den Globus – darunter auch Österreich – haben sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein. Für die Gebäude- und Energiesysteme dieser Länder bedeutet dies einen rapiden Wandel von fossiler hin zu erneuerbarer Energie. Dazu kommt eine viel stärkere gegenseitige Verknüpfung und ständige Interaktion zwischen unterschiedlichen Sektoren und deren Systemen: vom Gebäudebestand über die Mobilität bis hin zur Industrie, von Strom über Wärme bis zu synthetischen Brenn- und Treibstoffen. Verschiedenste Automationssysteme regeln die Produktion, den Transport, die Speicherung, die Umwandlung und die Nutzung von Energie.
Gerade der Gebäudebestand kann dem Energiesystem mit kontrolliertem Lastmanagement, Batterien und thermischer Speicherkapazität eine große Menge an Flexibilität bieten. Solche interagierenden Systeme brauchen jedoch eine ganzheitliche, systemische Sichtweise – und müssen entsprechend geplant sein, damit das Netto-Null-Ziel erschwinglich und die Versorgungssicherheit wie bis dahin sichergestellt ist.
Matthias Sulzer ist Forscher in der Empa-Abteilung "Urban Energy Systems" und am "Lawrence Berkeley National Laboratory" in Kalifornien, wo auch Michael Wetter in der Abteilung "Building Technology and Urban Systems" tätig ist. Beide kennen den Energiesektor sowohl in der Schweiz als auch in den USA. „Aufgrund der Komplexität und der geforderten Flexibilität künftiger Energiesysteme sowie der Dringlichkeit eines Wandels sind heutige Planungsprozesse nicht geeignet", so Sulzer. Warum ist das so?
Es werden oft nur die Schnittstellen für die Übergabe von einer in die andere Disziplin bearbeitet.Matthias Sulzer, Empa
Raus aus dem "Silo-Denken" im Planungsprozess
Trotz Bemühungen, das "Silo-Denken" zu überwinden, sei der Planungsprozess von Gebäude- und Energiesystemen noch immer nach Disziplinen organisiert, kritisieren die beiden Forscher. So entwickeln zum Beispiel Ingenieur*innen das Heizungs-, Lüftungs- und Klimatisierungssystem (HLK) eines Gebäudes auf der Grundlage von Plänen der Architekt*innen und in Übereinstimmung mit den aktuellen Vorschriften. Der Systementwurf wird an Gebäudeautomationstechniker*innen weitergegeben, und diese wiederum versuchen, eine geeignete Automation für die gegebenen Spezifikationen zu finden.
„Es gibt wenig bis keine Interaktion zwischen den Disziplinen, um Gebäude oder Energieinfrastrukturen als ganzheitliches System zu entwerfen. Es werden oft nur die Schnittstellen für die Übergabe von einer in die andere Disziplin bearbeitet", erklärt Sulzer und vergleicht das Vorgehen mit einem Wasserfall, der linear in eine Richtung fließt – nach unten – und keine Möglichkeiten bietet, auf eine höhere Ebene zurückzugehen und dort Verbesserungen für das Gesamtsystem einzubringen.
Dieser Paradigmenwechsel kann unsere Planungs-, Bau- und Betriebsprozesse revolutionieren und die Digitalisierung und Automatisierung fördern, die für das Erreichen unserer ehrgeizigen Dekarbonisierungsziele unerlässlich sind.Matthias Sulzer, Empa
Paradigmenwechsel für Gebäude- und Energiesysteme
Gemeinsam mit Forschenden in Berkeley und an der Empa schlagen Sulzer und Wetter daher einen Paradigmenwechsel bei der Planung von Gebäude- und Energiesystemen vor. Inspiration dazu kam von Alberto Sangiovanni-Vincentelli, einem Elektronik- und Computer-Wissenschaftler an der University of California in Berkeley, der mit seiner Arbeit dazu beigetragen hat, dass die Chip-Herstellung in den 1980er-Jahren von der individuellen, manuellen Planung und Fertigung in eine automatisierte Produktion überging.
In einer gemeinsamen Studie diskutieren sie, wie das von Sangiovanni-Vincentelli entwickelte "Platform-based Design", das den Ausschlag für diese Entwicklung in der Chip-Industrie gegeben hat, auch auf die Planung von Energiesystemen angewandt werden kann. Hauptbestandteil dieses Konzepts sind verschiedene Abstraktionsebenen, auf denen Systeme analysiert und optimiert werden, die sich gegenseitig beeinflussen. Gleichzeitig werden auf jeder Ebene allgemeingültige, aber individuell kombinierbare Modelle geschaffen, die vorgeben, wie ein System zu spezifizieren und zu bauen ist.
„Bei der Planung von Gebäuden und Energiesystemen werden heute von Fall zu Fall neue Modelle erstellt, um das Bestehende oder Geplante besser zu verstehen und zu beurteilen", erklärt Wetter und spricht dabei von einem wissenschaftlichen Umgang mit Modellen, in dem Modelle versuchen, das zu analysierende Objekt zu beschreiben. „Was wäre aber, wenn die Modelle nicht nur abbilden, wie ein Objekt sich verhalten wird, sondern auch spezifizieren, wie ein Objekt gebaut werden soll? Somit wären Modelle die Blaupausen, die modulartig kombiniert werden können und das Design und die Funktionalität eines Systems eindeutig spezifizieren."
Dieses Umdenken hin zu einem eher ingenieurorientierten Umgang mit Modellen käme einem ersten Schritt in Richtung einer Transformation gleich, wie sie die Chip- oder Autoindustrie vor einigen Jahrzehnten durchlaufen hat, ist Sulzer überzeugt. „Dieser Paradigmenwechsel kann unsere Planungs-, Bau- und Betriebsprozesse revolutionieren und die Digitalisierung und Automatisierung fördern, die für das Erreichen unserer ehrgeizigen Dekarbonisierungsziele unerlässlich sind."
Forschungsprojekt "GOES"
Eine erste konkrete Anwendung findet das Konzept im 2023 gestarteten EU-Projekt GOES (Geothermal-based Optimized Energy Systems), das von der Empa geleitet und unter anderem auch vom Schweizer Bundesamt für Energie unterstützt wird. Ziel des Projekts ist es, anhand von Pilotanlagen – so etwa auf dem Empa-Campus in Dübendorf – eine erste Anwendung für "Platform-based Design" zu entwickeln. Konkret bedeutet dies, dass die verschiedenen Abstraktionsebenen, auf denen die Entscheidungsfindung für die Gestaltung von urbanen Energiesystemen stattfindet, definiert und die Schnittstellen standardisiert werden sollen.