Interview : „Kreislaufwirtschaft scheitert nicht an fehlenden technischen Lösungen"
TGA: In vielen Köpfen beginnt Kreislaufwirtschaft fälschlicherweise erst beim Gebäudeabbruch – wie fließt dieses Konzept bereits in frühere Phasen des Gebäudelebenszyklus ein?
Steffen Robbi: Kreislauffähiges Bauen beginnt mit der Planung - im Neubau wie bei der Sanierung. Voraussetzung für den Einsatz kreislauffähiger Produkte und Materialien sind Informationen wie Zusammensetzung, Wiederverwendbarkeit, Demontierbarkeit und zunehmend wichtiger auch den Fußabdruck der Herstellung und Lieferkette. Bei Primärprodukten – also solchen, die zum ersten Mal in Benutzung sind – bieten viele Hersteller bereits den internationalen Standard der EPDs (environmental product declarations), in denen viele der notwendigen Informationen enthalten sind. Weitere Datenquellen sind nationale Baustoffdatenbanken, wie etwa das Baubook der IBO – Österreichisches Institut für Bauen und Ökologie. Auf Basis dieser Informationen lassen sich Umnutzungs- und Rückbaukonzepte erstellen, die Kreislauffähigkeit ermöglichen.
Schwieriger wird es allerdings dann, wenn Sekundärprodukte zum Einsatz kommen sollen – also Produkte oder Materialien, die einem zweiten Einsatz zugeführt werden. Aktuell scheitert dieses Vorhaben hauptsächlich an der sehr begrenzten Verfügbarkeit. Existierende Baustoffbörsen für Sekundärprodukte wie etwa die Materialnomaden kämpfen mit Fragestellungen hinsichtlich Lagerung, Zertifizierung und Gewährleistung – vor allem aber mit der wirtschaftlichen Aufbereitung standardisierter Produkte in hohen Stückzahlen. Daher ist nun vor allem die Industrie gefragt, Produkte zu entwickeln, die zerstörungsfrei rückbaufähig sind und eine spätere Umnutzung erlauben.
Aktuell ist ein lineares Wirtschaftssystem in der Bau- und Immobilienbranche vorherrschend. Was braucht es, um den Kreislaufwirtschafts-Turbo zu zünden?
Robbi: Seit mehr als 20 Jahren wird bereits an der Energiewende gearbeitet. Die notwendigen Technologien sind längst vorhanden. Wie gerade deutlich wird, sind die Gründe für die dennoch sehr schleppende Umsetzung, nicht technischer Art, sondern Großteils wirtschaftspolitischer. Auch die Kreislaufwirtschaft scheitert nicht an fehlenden technischen Lösungen, sondern lebt oder stirbt am Umsetzungswillen mit entsprechend wirtschaftlicher Ausgestaltung. Ein Kreislauf-Turbo wird daher meiner Meinung nach nur dann gezündet, wenn es entweder klare wirtschaftliche Vorteile beim Einsatz von Sekundärprodukten oder regulative Rahmenbedingungen für diese gibt. Der klarste Indikator zum Thema Energiewende ist das CO2-Äquivalent, das es zu bepreisen gilt – wie mittlerweile viele Studien nachweisen. In der Kreislaufwirtschaft geht es um die Reduktion von Primär-Rohstoffen. Und genau da muss auch die Nachweisführung und entsprechende Anreize oder Pflichten ansetzen, wenn Wirkung erzielt werden soll.
Nicht wieder bei "Null" anfangen
Nicht nur die Zirkularität, sondern auch die Länge des Gebäudelebenszyklus ist von Bedeutung – welche Rolle spielt die Klimaresilienz für die Kreislaufwirtschaft?
Robbi: Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und der weitestgehende Einsatz von Sekundärmaterialien, die Senkung der Energiekosten und des Zeitaufwandes in der Errichtung von Immobilien sind nur der Anfang. Ein Gebäude, das heute gebaut wird, muss darauf ausgelegt werden, sich zukünftigen Anforderungen flexibel anpassen zu können. Sonst sind die neuen Herausforderungen, vor denen wir in Kürze stehen werden, wieder der Ausgangspunkt für umfassende Anpassungen und wir fangen sozusagen wieder bei „Null“ an. Ziel muss sein, jetzt und in Zukunft so wenig wie möglich und so viel wie nötig zu bauen und nachzurüsten.
Die Länge des Lebenszyklus ist also von enormer Bedeutung für ein Wirtschaftssystem, welches mit Rohstoffressourcen aller Art sorgsam umgehen will. Entscheidend dafür sind die Nutzungsflexibilität und die Rückbaufähigkeit von Gebäuden. Klimaresilienz zielt hingegen nicht auf die Vermeidung von Klimaschäden ab, sondern auf die Abmilderung extremer Ereignisse, wie Starkregen, Dürre, Hitze und Kälte. Klimaresiliente Gebäude weisen also die Fähigkeit auf, anhaltend hohe Lebensqualität und Performance auch in extremen klimatischen Situationen zu bieten. Themen wie Bauwerksbegrünung, Versickerungsfähigkeiten, Verschattung, Offenheit in der Gestaltung hinsichtlich Luftaustausch und thermische Speicherfähigkeit der Baumassen sind hierzu von Bedeutung.
Warum kann Kreislaufwirtschaft ohne Digitalisierung nicht funktionieren?
Robbi: Sehen wir uns etwa den Planungsprozess an – hier ist es wichtig, verschiedene Varianten zu erfassen, die dann nach unterschiedlichen Kriterien bewertet und miteinander verglichen werden. Dazu braucht es intelligente Werkzeuge, wie Simulationen und digitale Gebäudemodelle. Es reicht nicht mehr, dass Bauphysiker*innen sich auf Erfahrung verlassen und eine bestimmte Fassadendämmung vorschlagen – erst durch das Durchrechnen verschiedener Optionen können optimale Entscheidungen getroffen werden. Die Aufgabe der digitalen Werkzeuge liegt also darin, innerhalb der unzähligen Gestaltungsvarianten und im komplexen Rahmen des „Prototyps Gebäude“ die besten Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Weiters braucht die Kreislaufwirtschaft die Digitalisierung für die Nachweisführung und Dokumentation. Dies betrifft die gesamte Logistikkette von der Gewinnung von Rohstoffen, deren Verarbeitung, bis hin zu Einsatz, Rückbau und Wiederverwertung. Nur wenn Baustoffe, Produkte und Gebäude digitale Identitäten bekommen, sind deren Herkunft und Zusammensetzung sowie die Anforderungen an eine Aufbereitung auch nachvollziehbar – der digitale Gebäudepass wird zu einer der wichtigsten Voraussetzungen der Kreislaufwirtschaft. Zukunftsfähiges Bauen ist also kein trivialer Prozess und die Möglichkeiten zur Optimierung und Steigerung der Wertschöpfung in Planen, Bauen und Betreiben mittels Digitalisierung sind noch lange nicht ausgeschöpft.
Aktuell befinden Sie sich mitten im Projekt „Digitale Grundlagen für kreislauffähiges Bauen“ – gibt es im bisherigen Projektverlauf bereits Erkenntnisse, die Sie überrascht haben
Robbi: Ein wenig überraschend war schon, dass die EU-Taxonomie zu der dominierenden Regulative wird und eine sehr erfreuliche Schubkraft in Sachen Kreislaufwirtschaft erzeugt. Es gibt jedoch noch keine skalierbaren Konzepte für den Einsatz von Sekundärprodukten. Zwar sind am Markt bereits diverse Lösungen im Bereich der Rückbaukonzepte zu finden, aber für eine echte Resonanz müsste es gelingen, diese Angebote besser zu verzahnen und insgesamt die Usability zu steigern. Große Fortschritte sind dafür in der Entwicklung von Plattformen für Gebäude- und Ressourcenpässe sowie Materialbörsen zu verzeichnen. Darüber hinaus lassen sich die Kriterien für einen Gebäudepass sehr gut um die Anforderungen einer Nachhaltigkeitsbewertung ergänzen und in einen BIM-Standard überführen.
Innovationskongress 2022: Digitales Planen, Bauen & Betreiben
Fällt Ihnen ein Best Practice-Beispiel aus der Bau- und Immobilienbranche ein, das in Sachen Kreislaufwirtschaft Ihrer Ansicht nach alles richtig macht?
Robbi: Es gibt eine ganze Reihe an tollen und innovativen Projekten, die alle eine Erwähnung wert wären. Ich möchte aber den Speakern unseres Innovationskongresses für digitales Planen, Bauen und Betreiben an dieser Stelle nicht voraus greifen. Best Practices werden den roten Faden durch alle Programmpunkte bilden und ich lade Ihre Leser*innen sehr herzlich dazu ein, sich bei diesem Event viele interessante und qualitative Einblick geben zu lassen.
Der Innovationskongress von Digital Findet Stadt widmet sich dieses Jahr unter anderem den Themen Kreislaufwirtschaft, Digital Change und Urban Resilience – weshalb darf sich die Branche diesen Termin nicht entgehen lassen?
Robbi: Digitalisierung ist ein wesentlicher Hebel, um Verschwendung und Ineffizienzen zu reduzieren. Die Suche nach möglichen Einsparungspotentialen hat erst begonnen und nimmt mit der Zunahme an digitalem Know-how in der Branche sowie vor dem Hintergrund der Rohstoff- und fossilen Energieknappheit gerade erst so richtig Fahrt auf. Die Bau- und Immobilienbranche ist zwar einer der größten CO2-Emittenten der Welt – die Nutzung des Digitalisierungspotential ist dahingegen weit abgeschlagen. Aber genau darin liegt daher auch unser Hebel und die große Chance darauf, diesen misslichen Spitzenplatz im Kreise der Klimasünder hinter uns zu lassen.
Wer sich heute nicht mit den Themen Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz beschäftigt und sie auch in den eigenen Arbeitsalltag hineinträgt, der wird mehr früher als später das Nachsehen haben. Wir diskutieren Lösungen wie Robotik, Holzbau & Co mit Forschung, Ministerienvertreter*innen und Wirtschaft, zeigen internationale Best Practices, präsentieren den Stand der Branche zur Digitalisierung und wagen mit ausgewiesen Expert*innen auch den einen oder anderen kühnen Blick in die Zukunft. Wir sind stolz auf ein gelungenes Programm und freuen uns sehr auf eine rege Teilnahme.
>> Tipp der Redaktion: Diese Beiträge könnten Sie außerdem interessieren!
Von Investitions- hin zu Lebenszykluskosten
European Green Deal: „Der Status Quo ist keine Option“
BIM: Kein Modetrend, sondern Rückgrat der digitalen Transformation
Gut zu wissen: Wann und wo?
Termin: 15. September 2022, Einlass ab 09:00, Beginn um 09:30 Uhr, Abendprogramm ab 18:00 Uhr
Adresse: ARIANA, Christine-Touaillon-Straße 4, 1220 Wien oder online via Live-Streaming