Bauen außerhalb der Norm in Österreich : Bewegung beim „Gebäudetyp Ö“

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Was ist dran am "Bauen außerhalb der Norm"? TGA-Chefredakteur Klaus Paukovits ist dem "Gebäudetyp Ö" auf die Spur gegangen.

- © Romolo Tavani - stock.adobe.com

Schimpfen über die Normen ist am Bau so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, über alle Gewerke und Interessensgegensätze hinweg. Zu kompliziert, zu praxisfremd, zu viele, noch dazu widersprüchlich: Das sind die häufigsten Beschwerden, die von Planenden ebenso zu hören sind wie von Ausführenden. Obendrein machen Normen den Bau teurer und fehleranfälliger, auch darauf können sich Baumeister*innen mit Installateur*innen oder Trockenbauer*innen jederzeit einigen. Aber ist es wirklich so?

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Gebäudetyp E: Deutschland prescht vor

In Deutschland konnten die Bundesarchitektenkammer und die Bundesingenieurkammer die Spitzen der Politik von dieser Meinung überzeugen. Denn 2024 veröffentlichte das deutsche Bauministerium unter dem Titel „Gebäudetyp E“ eine Leitlinie samt Prozessempfehlung für einfaches Bauen: „Bauen in Deutschland muss einfacher, schneller und günstiger werden“, schrieb die damalige Ministerin Klara Geywitz im Vorwort dieser Leitlinie. 

Dieser Gebäudetyp E eröffnet demnach „neue Spielräume für innovatives Planen und Bauen, auch durch den Verzicht auf kostenintensive Standards“, so die Ministerin weiter. In Österreich wurde diese Idee mit Begeisterung aufgenommen und in der Initiative „Bauen außerhalb der Norm“ vorangetrieben. Kopf dieser Initiative ist Anton Rieder, der als Landesinnungsmeister Bau in Tirol und stellvertretender Bundesinnungsmeister den Forderungen auch ein entsprechendes politisches Gewicht zu geben vermag.

>>> Anton Rieder im Interview: Dreistufig – aber um welchen Preis?

Anton Rieder
Anton Rieder ist der Kopf der Initiative „Bauen außerhalb der Norm“ ssowie Landesinnungsmeister Bau in Tirol und stellvertretender Bundesinnungsmeister. - © christophascher.at

Rieder, geschäftsführender Gesellschafter des mittelständischen Familienunternehmens Riederbau in Kufstein, sieht im Gebäudetyp E viele nachahmenswerte Vorteile: „Auf Standards, die nicht unbedingt notwendig sind, kann verzichtet werden, ohne dass die Qualität und Sicherheit der Gebäude beeinträchtigt wird“, schreibt er in einer vielgelesenen Serie auf LinkedIn. Zudem können die Leitlinien für den Gebäudetyp E sowohl bei Neubauvorhaben als auch im Bestand genutzt werden. 

Aus der von Rieder angeführten Initiative wurde ein Forschungsvorhaben, das von der Zukunftsagentur Bau gemeinsam mit der Universität Innsbruck (Arbeitsbereich für Baumanagement, Baubetrieb und Tunnelbau) sowie dem Rechtsanwaltsbüro Heid&Partner durchgeführt wurde. Im Oktober 2024 fasst diese Studie die Möglichkeiten zusammen, wie mit „Bauen außerhalb der Norm“ mehr Innovationen und niedrigere Baukosten erreicht werden können. Seither läuft die öffentliche Diskussion, in der sich das für die Normung verantwortliche Institut Austrian Standards (AS) bisher auffällig ruhig verhielt. 

Auf Standards, die nicht unbedingt notwendig sind, kann verzichtet werden, ohne dass die Qualität und Sicherheit der Gebäude beeinträchtigt wird.
Anton Rieder, Innung Bau

Austrian Standards: Normung ist kein Selbstzweck

„Kritik ist etwas Positives, weil es zeigt, dass sich der Kritiker mit einem Thema auseinandersetzt“, sagt Karl Grün im Gespräch mit der TGA über die Initiative „Bauen außerhalb der Norm“. Grün bestimmt seit über 30 Jahren die österreichische Normungslandschaft maßgeblich mit. Derzeit ist er Deputy Managing Director bei Austrian Standards, und naturgemäß tritt er zur Verteidigung des Normenwesens an. 

„Normen sind kein Selbstzweck. Sie dienen dem Erreichen eines übergeordneten Ziels.“ Einerseits im gesetzlich geregelten Bereich, also wenn es Rechtsvorschriften gibt: Dann helfen Standards laut Grün dabei, diese politisch legitimierten Ziele zu erreichen, indem sie Messmethoden oder Leistungsmerkmale definieren. Oder eben im gesetzlich ungeregelten Bereich, dann wird durch Standards eine Metaebene geschaffen, die Interoperabilität ermöglicht. „Normen schaffen Planungssicherheit“, so Grün, der den AS-Ehrenpräsidenten, Walter Barfuß, umgangssprachlich zitiert: „Damit es weniger Bröseln gibt!“

Karl Gruen
Karl Grün, Deputy Managing Director bei Austrian Standards - © feelimage/Felicitas Matern
Kritik ist etwas Positives, weil es zeigt, dass sich der Kritiker mit einem Thema auseinandersetzt.
Karl Grün, Austrian Standards

Weniger Normen als Ziel

Bei der Bauwirtschaft plädiert Karl Grün dafür, genauer hinzusehen, wo der Schuh eigentlich drückt: „Ob Normen wirklich dafür verantwortlich sind, dass die Baukosten gestiegen sind, oder ob da nicht gestiegene Rohstoffpreise, Lieferkettenprobleme oder andere Kostenfaktoren wichtiger sind, sei dahingestellt.“ Zudem würden da gerne technische Normen im AS-Sinn mit gesetzlichen Regelungen, Behördenbescheiden, Förderungsbedingungen und anderen Regularien in einen Topf geworfen, obwohl das alles keine Normen im ursprünglichen Sinn seien. 

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Außerdem seien Normen ja nicht in Stein gemeißelt, sie würden spätestens alle fünf Jahre auf Zweckmäßigkeit, Aktualität und Widerspruchsfreiheit geprüft: „Wenn jemand Fehler erkennt, begrüßen wir das sehr, wenn er diese Fehler in die Gremien zurückmeldet“, öffnet Grün den Kritiker*innen die Türe. Und wenn am Ende weniger Normen rauskommen, denn es komme ja sogar vor, dass Normen ersatzlos zurückgezogen werden, dann sei das sogar „wunderbar“. Denn gerade am Bau würden derzeit Entwicklungen wie BIM oder KI für rasche Veränderungen sorgen. 

Diskussion gehört auf politische Ebene

Bei aller Bereitschaft zur öffentlichen Diskussion – so fand im April auch erstmals ein „Baustammtisch“ bei Austrian Standards mit Anton Rieder als Ehrengast statt, wo die unterschiedlichen Argumente ausgetauscht wurden – sieht Karl Grün aber das Normungsinstitut nicht als den primären Gesprächspartner. Gerade beim „Bauen außerhalb der Norm“ müsse die Diskussion davor auf politischer Ebene geführt und alle Stakeholder*innen einbezogen werden. 

Das sei eben nicht nur die Bauwirtschaft, sondern auch Nutzergruppen wie Bauherr*innen, Mieter*innen und Behörden. Grün: „Wenn diese Gruppen sich auf Änderungen einigen, sind wir bereit!“ Sollte sich also auch in Österreich die Politik von Normenkritikern überzeugen lassen, ist demnach auch bei uns ein „Gebäudetyp Ö“ möglich.

>>> Passend zum Thema: "Bauen außerhalb der Norm" hat auch die Dimensionierung einer Heizungsanlage nach der ÖNORM H 7500-1 ins Visier genommen. Was Michael Pokorny, Vorsitzender des Normungskomitees, auf die Kritik geantwortet hat, lesen Sie hier.

Baustammtisch mit Peter Maydl, Zivilingenieur für Bauwesen von der Kammer der Ziviltechniker*innen, Andreas Pöschko, Jurist und Teamleiter bei der Mietervereinigung, Anton Rieder, Bundesinnungsmeister-Stellvertreter Bau der WKO, Moderatorin Gudrun Ghezzo, Stefan Wagmeister, Komitee-Manager bei Austrian Standards International und Team-Lead Standards für das Bauwesen sowie Deputy Head of Standards Development und Robert Jansche. Vorstand österreichisches Institut für Bautechnik (v.l.n.r.)

- © Austrian Standards/APA-Fotoservice
Wir haben am Bau echten Handlungsbedarf durch die massiven Kostensteigerungen, das darf man nicht unterbewerten: Aber das kann eben nicht auf Kosten von Hygiene, Sicherheit und Qualität gehen.
Martin Taschl, Forum Wasserhygiene

Bau- und Betriebsnormen unterscheiden

Bauchschmerzen hat Martin Taschl beim Thema „Bauen außerhalb der Norm“. Taschl gilt als einer der profundesten Kenner des Normungsprozesses in der heimischen Gebäudetechnik. Seit 2005 ist der Trinkwasserexperte und Generalsekretär des Forums Wasserhygiene in Normungsgremien aktiv. Für ihn ist die Unterscheidung zwischen Bau- und Betriebsnormen elementar. Für die Bauchschmerzen sorgt vor allem die erste Normengruppe: „Einmal gebaut, lässt sich nur schwer wieder ändern.“ Daher müsse man da besonders vorsichtig beim Abgehen von der Norm sein. Als Beispiel nennt er energiesparende Trinkwasser-Erwärmungsanlagen, die eine Zeit lang en vogue waren, mit denen aber die nötigen Hygienestandards nicht eingehalten werden konnten: Hier stellte sich „Bauen außerhalb der Norm“ als gravierendes Problem dar. 

Ein ähnliches Beispiel gibt es in der ÖNORM B 2531, die nun getrennte Schachtführung für Kalt- und Warmwasser vorsieht. Taschl: „Das wurde eingeführt, weil wir im Bestand wegen der gemeinsamen Schachtführung massive Probleme mit zu warmem Kaltwasser haben.“ Die getrennte Schachtführung sei freilich ein Kostentreiber, gemeinsame Schächte bringen eine Preisreduktion – und trotzdem wären Bauherr*innen und Nutzer*innen am Ende nicht glücklich, wenn man nur aus Kostengründen auf die Normvorgaben verzichtet. „Wir haben am Bau echten Handlungsbedarf durch die massiven Kostensteigerungen, das darf man nicht unterbewerten: Aber das kann eben nicht auf Kosten von Hygiene, Sicherheit und Qualität gehen“, so Taschl. 

Bei Betreibernormen hingegen ist das anders, da sei die ÖNORM B1921 vorbildlich: „Sie lässt erstmals offiziell einen alternativen Betrieb zu, solange man nachweist, dass die Hygiene eingehalten wird. Gelingt das nicht, kann man wieder auf normgerechten Betrieb wechseln“, erklärt Taschl. In diesem Sinne ist ein „Bauen außerhalb der Norm“ ausdrücklich möglich und auch erlaubt, solange das Erreichen der mit der Norm anvisierten Schutzziele auf anderem Weg erreicht und auch nachgewiesen wird: „Ich halte das für einen sehr guten Ansatz!“

Fachautor Martin Taschl leitet das Forum Wasserhygiene als Generalsekretär. Seit 2005 begleitet er die Normenarbeit in den Gremien von Austrian Standards, CEN & ISO. Martin Taschl ist hauptberuflich Schulungsleiter bei WimTec Sanitärprodukte.
Trinkwasserexperte Martin Taschl leitet das Forum Wasserhygiene als Generalsekretär. Seit 2005 begleitet er die Normenarbeit in den Gremien von Austrian Standards, CEN & ISO. - © Martin Taschl
Die in der Norm definierte, anerkannte Regel der Technik spiegelt nicht immer den aktuellen Stand der Technik wider.
Manfred Priesching, Geberit Österreich

Lösungen außerhalb der Norm

Auch Manfred Priesching sieht sich als Verfechter der Norm – und doch ist es für ihn wichtig, auch über die in den Normen festgeschriebenen anerkannten Regeln der Technik hinauszugehen. Prisching ist seit April 2025 Leiter des Produktmanagements bei Geberit Österreich und seit langem in mehreren Normungsgremien aktiv, etwa in der Arbeitsgruppe AG58.01 Planung Heizungsanlagen, zuletzt für die Dämmnorm H 5155, sowie im ÖVGW-Arbeitskreis für die Zertifizierung Gas-Inneninstallation. 

Redet man beim „Bauen außerhalb der Norm“ einfach von einer Missachtung der Norm, lehnt er das natürlich ab. Wenn es aber darum geht, das in der Norm definierte Ziel auf anderem Weg zu erreichen oder gar zu übertreffen, und sich mit Gutachten oder Prüfungen belegen lässt, dass das Normziel auch so zu schaffen ist, dann sei das etwas anderes: „Die in der Norm definierte, anerkannte Regel der Technik spiegelt nicht immer den aktuellen Stand der Technik wider“, betont Priesching. Aus der Geberit-Welt nennt er mehrere konkrete Beispiele für Produkte, die Lösungen außerhalb der Norm jetzt schon ermöglichen.

Innovation in der Gebäudetechnik

Das erste Beispiel ist Silent-Pro Supertube. Priesching: „In Abwasserleitungen werden ausgeglichene Druckverhältnisse benötigt. Um dieses Ziel zu erreichen, werden in der ÖNORM B2501 ab gewissen Fallleitungshöhen Umgehungsleitungen und anschlussfreie Zonen vorgeschrieben.“ Mit Silent-Pro Supertube stellt Geberit die Erreichung dieses Normziels aber durch spezielle Formteile auch ohne Umgehungsleitungen und anschlussfreie Zonen sicher. Das bringt mutigen Bauherr*innen einige Vorteile, wie die Platzersparnis, die Möglichkeit teilweise ohne Gefälle die Entwässerung sicherzustellen, und eine um 15 Prozent bessere Abflussleistung.

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Für die Badsanierung nennt Priesching die DuoFresh Geruchsabsaugung als Beispiel. Normativ ist festgelegt, dass in einem geschlossenen Sanitärraum ein bestimmter Luftwechsel benötigt wird, etwa durch Fenster oder eine mechanische Lüftung. Nun gibt es in der Sanierung aber immer wieder WC-Räume, wo gar keine Möglichkeit besteht, ein Fenster oder eine Lüftung einzubauen. 

Priesching: „Dafür haben wir die DuoFresh Geruchsabsaugung entwickelt, die die Luft in der WC-Schüssel absaugt und über einen Keramik-Wabenfilter gereinigt dem Raum wieder zuführt.“ Das ist nicht 100-prozentig richtlinienkonform und könne niemals ein Ersatz für den klassischen Luftwechsel sein. „Aber es ist eine Maßnahme für die Steigerung des Wohlbefindens in manchen Sanierungssituationen“, erläutert der Produktmanager. 

Priesching Manfred
Manfred Priesching, Leiter des Produktmanagements bei Geberit Österreich - © foto-hoefinger.at
Normen sind dafür da, den Ausführenden vor Klagen zu schützen.
Martin Taschl, Forum Wasserhygiene

Problemzone Sanierung

Die Sanierung kennt viele Beispiele, wo normkonformes Bauen an ihre Grenzen stößt: „In der Badsanierung ist es durch zu niedrige Bodenaufbauten nicht immer möglich, die normativ vorgeschriebenen 50 mm Sperrwasserhöhe zu erreichen. Für diese Sondersituation haben wir ein Rohbauset für CleanLine Duschrinnen im Sortiment, für Estrichhöhe am Einlauf 65–90 mm. Der Siphon kommt mit 30 mm Sperrwasserhöhe aus und macht es möglich, trotzdem eine CleanLine Duschrinne draufzusetzen.“ Das sei von Hydrauliktechniker*innen gut untersucht, geprüft und freigegeben. In den Geberit Unterlagen wird angeführt, dass die Limitierung der Einsatzgrenzen gemäß EN 1253-6 nicht berücksichtigt werden muss. Priesching: „Diesen Siphon setzen wir kaum im Neubau ein, aber wir ermöglichen damit eine wirtschaftliche Machbarkeit in der Badsanierung bei niedrigen Bodenaufbauten.“

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„Normen sind dafür da, den Ausführenden vor Klagen zu schützen“, ergänzt Martin Taschl. Dass gerade Installateur*innen häufig vehement gegen Normen auftreten, könnte daher ein Missverständnis sein. Denn wenn ein Problem auftritt, sind die Installateur*innen das letzte Glied in der Kette und haftbar: „Der Installateur hat Hinweispflicht, wenn er Fehlplanungen feststellt!“ Taschl bleibt beim Beispiel der B2531: „Wenn ein Mieter oder ein Auftraggeber feststellt, dass sein Kaltwasser nach 30 Sekunden noch 25 °C hat, dann schreibt ihm ChatGPT innerhalb von wenigen Minuten eine 3-seitigen Aufsatz darüber, mit dem er jeden Schadenersatzprozess gegen den Installateur gewinnt.“ 

Mann und Frau arbeiten online am Handy und am Laptop

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Normen in einfacher Sprache

Warum gerade bei Handwerker*innen Normen auf wenig Gegenliebe stoßen, hat für Taschl andere Gründe: „Normen sind zu kompliziert geschrieben. Ich bin Verfechter der einfachen Sprache und der kurzen Sätze, kann mich aber auch meinen Normengruppen nicht immer durchsetzen.“ Jeder noch so undenkbare Sonderfall würde da berücksichtigt, die Ausdrucksweise mit den vielen eingeschobenen Gliedsätzen macht das Ganze noch unverständlicher. Taschl: „Am Ende brauchst Du einen Universitätsprofessor, der erklärt, was eigentlich gemeint war, und selbst dann gibt es noch Interpretationsspielraum.“ Normen müssten in einem Deutsch geschrieben sein, das für alle verständlich ist, und nicht nur für diejenigen, die selber in Normungsgremien mitarbeiten. Er plädiert für „Normen in einfacher Sprache“, so wie der ORF seit einiger Zeit seine Nachrichten auch anbietet: „Ein Satz, maximal zwei Zeilen, Subjekt Prädikat Objekt, fertig.“ 

In den meisten europäischen Ländern kostet sogar die Teilnahme an den Standardisierungsgremien etwas, in Österreich nicht!
Karl Grün, Austrian Standards

Fehlende Unterstützung durch Austrian Standards

Bei den Handwerker*innen, die die Normen im Alltag auch umsetzen müssen, kommt für Taschl noch ein weiteres Thema dazu: „Bei wahrscheinlich mehr als der Hälfte ist Deutsch nicht die Muttersprache. Das heißt, wir müssten zusätzlich zur einfachen Sprache viel mehr mit Bildern und Zeichnungen arbeiten.“ Gerade hier sieht der Normungsexperte aber Nachholbedarf, er beklagt den fehlenden Support durch Austrian Standards: „Wenn in einer Norm heute eine Zeichnung oder ein Bild abgedruckt ist, um sie leichter verständlich zu machen, dann hat sie ein engagierter Kollege selbst gezeichnet und unentgeltlich zur Verfügung gestellt“, so Taschl. Die Expert*innen in den Normungsgremien bekämen nämlich nicht nur kein Honorar, sondern müssen neben der Zeit auch Reisekosten und andere Aufwände selbst tragen. Und am Ende müssten sie die Normen, die sie selbst geschrieben haben, dem AS sogar abkaufen.

Eine Kritik, die Karl Grün nicht so stehen lassen will: „In den meisten europäischen Ländern kostet sogar die Teilnahme an den Standardisierungsgremien etwas, in Österreich nicht!“ AS sei als Verein organisiert, der nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, und müssten sich zu einem erheblichen Anteil durch eigene Produkte und Dienstleistungen finanzieren. Die Zahl der Expert*innen, die in der Normung mitarbeiten, leide nicht unter diesen Rahmenbedingungen, im Gegenteil: „Wir verzeichnen eine Zunahme“, so Grün. Auch die These, dass sich nur große Konzerne und große Organisationen die Entsendung von Personen in Normungsgremien leisten können, stimme demnach nicht: „44 Prozent der Personen in den Gremien kommt aus kleinen und mittleren Betrieben oder Organisationen, Tendenz sogar steigend!“

Austrian Standards Gebäude
© copyright.carostrasnik
Wenn es in den Ausschüssen an Praktikern fehlt, kommen eben manchmal Normen heraus, von denen sich die Anwender nicht so gut vertreten fühlen.
Manfred Priesching, Geberit Österreich

Der steinige Weg der Veränderung

Die Einladung, sich doch selbst in den Normungsgremien zu engagieren, wenn einem die Norm nicht passe, und das System von innen heraus zu verändern, kennt auch Anton Rieder. Nach mehr als 20 Jahren Funktionärstätigkeit ist er zu der Erkenntnis gekommen, dass sich das für ihn nicht mehr ausgeht: „Da müsste ich 150 Jahre alt werden“, schreibt er auf LinkedIn. 

Auch Manfred Priesching sieht diesen Weg als zu steinig an: „Normen sind oft ein Kompromiss, und der soll dann auf soliden Füßen stehen und von allen getragen werden können.“ Außerdem sei es für einen Anbieter wie Geberit auch nicht schlecht, Sonderlösungen anbieten zu können, deren Funktionsfähigkeit sich belegen lässt. Priesching: „Für Geberit ist es oft einfacher und klüger, unsere Kunden von diesen Lösungen zu überzeugen, als viel Energie in die Änderung einer Norm zu stecken.“ Trotzdem würde Priesching sich wünschen, dass Installateur*innen – also die Anwender*innen der gebäudetechnischen Normen – noch stärker in der Normenarbeit involviert wären. „Wenn es in den Ausschüssen an Praktikern fehlt, kommen eben manchmal Normen heraus, von denen sich die Anwender nicht so gut vertreten fühlen“, so Manfred Priesching. 

Die zunehmende Komplexität am Bau ist ein Produktivitätskiller.
Anton Rieder, Innung Bau

Normen als Komplexitätstreiber

Doch die Zeit drängt, und bis eine Veränderung des Systems von innen heraus möglich ist, könnte es für die kriselnde Baubranche zu spät sein. Anton Rieder rechnet vor: „Die Baubranche hat seit 20 Jahren eine rückläufige Produktivität von minus 0,9 Prozent pro Jahr, die Fehlerkosten belaufen sich auf 12 bis 15 Prozent“. Ein wesentlicher Grund dafür sei die ständig steigende Komplexität auch durch Normen. Ein Beispiel sei die Stahlbetonbemessungsnorm B4200, die zu seinen HTL-Zeiten noch 50 Seiten hatte und beherrschbar war. Mittlerweile sei sie als B4700 auf über 500 Seiten angewachsen, und in der nächsten Ausgabe sollen es laut Rieder sogar 1.000 Seiten werden. Das Normen ein Produktivitäts-Booster wären und zu einer Vereinfachung des Baus führen, sei für ihn angesichts dieser Verzwanzigfachung der Anforderungen nicht feststellbar, im Gegenteil: „Die zunehmende Komplexität am Bau ist ein Produktivitätskiller und führt zu hohen Fehlerkosten – und Normen sind ein Treiber hoher Komplexität.“ 

Das führt den Normengegner am Ende wieder zurück zum Gebäudetyp E, mit dem das deutsche Bauministerium einen sparsameren Einsatz der Normen empfiehlt: „Die zielgerichtete und nutzerorientierte Anwendung von Baunormen führt zu einem effizienteren Einsatz von Materialien, geringeren Planungs- und niedrigeren Baukosten“, so Rieders Fazit.